Da war es wieder - dieses fiese Grinsen der Morgensonne,           als sie ihre Strahlen durch die halbgeöffneten Rolläden fädelte,           um mir damit in den Augen zu kitzeln, bis ich mich nicht länger guten           Gewissens im Bett halten konnte. Also schwang ich wie jeden Morgen nach           einem vergeblichen Training in Ignoranz meine Beine aus dem Bett und legte           die selbstgebrannte Gute-Laune-CD in den Hifi-Turm. "Please Allow           Me To Introduce Myself..." schmetterte es gleich darauf in die morgendliche           Stille. "Sympathy for the Devil" - doch nicht die lahme "Stones"-Version           sondern das Cover von Guns'n Roses. 
        Duschen. Zähne putzen. Anziehen. Das alles hatte ich bereits auf           fünfzehn Minuten minimiert, was bedeutete, daß ich genau dann           fertig wurde, als meinen beiden Mitbewohnerinnen die Musik auf die Nerven           ging, und sie sich ebenfalls in der Küche einfanden. "Das Frühstück           ist die wichtigste Mahlzeit des Tages.", hörte ich mich zu Eve           sagen, die sich mit Maulwurfsäuglein und Knittergesicht wie üblich           nur einen Kaffee aufbrühte, während ich den Kühlschrankinhalt           auf dem wackligen Küchentisch, den wir erst vor einem Monat vorm           Sperrmüll gerettet hatten, ausbreitete. "Du klingst wie deine           Mutter.", sagte diese und schüttete den halben Inhalt eines           Kuheuters zu ihrem Kaffee. "And I like you, I like you, I like you...",           sang ich statt einer Antwort mit den Dandy Warhols, nachdem ich mich von           dem Schrecken erholt hatte, daß Eve mit ihrer Behauptung recht hatte.           Dann hämmerte ich gegen die Badtür, um das Rauschen der Dusche           zu übertönen: "Hey, Michy! Irgendwas vom Bäcker?!"
        Fünf Minuten später war ich mit vier Vollkornbrötchen wieder           zurück. Eve, die Nachrichtenfetischistin hatte einen Radiosender           eingestellt, um sich den Tag gleich mit schlechten Nachrichten aus aller           Welt verderben zu lassen. Zum Glück lief bereits der Blitzerservice,           als wir uns zu dritt an den Tisch setzten. "Na, was haben wir denn           heute vor?", fragte Michy an ihrem Marmeladenbrötchen kauend. 
  "Vielleicht gehen wir heute mal wieder in die Uni." Eve pustete           in ihren Kaffeepott.
  "Also, das Übliche.", seufzte ich und legte mir eine Extra-Scheibe           Salami auf die Brötchenhälfte. Salami mochte ich jederzeit,           wenn die Fettaugen nicht bereits hämisch aus der Scheibe grinsten           und der Hüfte bedrohliche Polster ankündigten. Die Margarine           hingegen mußte erstens unbedingt von "du darfst" und zweitens           gleichmäßig dünn aufgetragen sein, denn ich dachte stets           mit einem Schauder an die dicken Butterbrote meiner Kindheit. 
  "Ich versteh' nicht, wie du sowas zum Frühstück essen kannst!",           sagte Eve zweifelnd nicht zum ersten Mal in unserer gemeinsamen WG-Zeit.
  "Ganz einfach so.", entgegnete ich und biß herzhaft in           meine Brötchenhälfte. "Kann sich ja nicht jeder zu Tode           hungern wie du."
  "Macht lieber ein bißchen schneller! In zehn Minuten müssen           wir los.", riet Michy. "Heute ist übrigens das erste Blockseminar           von Mrs. T." Dann verschwand sie schon wieder im Bad, um sich ihrer           Zahnpflege und der perfekten Fönfrisur zu widmen. Ich legte die zweite           Brötchenhälfte zurück in die Bäckertüte und ging           daran, den Tisch wieder abzuräumen. Im Abwasch stapelte sich bereits           das Geschirr vom Vortag. Doch da das Waschbecken noch nicht unter der           Last der Tassen und Teller zusammenbracht, türmten Eve und ich das           Frühstücksgeschirr dazu und verschoben den Abwasch auf später.
  
* * *
  Gerade als ich einen Block und mehrere Bücher, deren Leihfrist             abgelaufen war, in meinen Rucksack stopfte, klingelte es an unserer             Wohnungstür. "Ich mach auf!", rief Eve und gleich darauf             klang Babygreinen durch die Wohnung. "Franzi ist hier.", rief             Eve wieder. Dann fiel die Tür ins Schloß. Nichts Gutes ahnend             ging ich hinaus in den Flur, wo Franziska gerade eine Tasche abstellte,             während Eve den kleinen Max hielt. "Ihr müßt heute             unbedingt auf Max aufpassen.", meinte Franzi und sah bittend in             die Runde. "Ich hab' ein Vorstellungsgespräch um 10 in Berlin             und mein Babysitter hat vor einer Stunde abgesagt."
    "Wir müssen in die Uni.", stellte Eve fachmännisch             fest und drückte mir Max in die Arme, um sich die Schuhe anzuziehen.
    "Oh, Mädels, bitte! Das ist superwichtig für mich.",             bat Franzi erneut. "Kann nicht eine von euch mal schwänzen.             Studenten gehen doch sowieso nur zu den Klausuren in die Uni."
    "Wir nicht. Mal ganz davon abgesehen schreiben wir auch so gut             wie nie Klausuren.", meldete sich Michy aus dem Bad aus dem nun             eine Wolke von Haarspray, Deo und Pfefferminze in den Flur gezogen kam. 
    "Genau.", stimmte ich zu. "Und außerdem haben wir             doch kaum Ahnung von Babys."
    "Ach, los. Seid doch nicht so. Windeln, Spielzeug, Wechselwäsche             - hab' ich alles schon dabei. Die Fläschchen sind auch schon vorbereitet,             müssen bloß noch warm gemacht werden. Und Max ist doch lieb.             Der schläft die meiste Zeit." Besagter Max hatte das Greinen             aufgegeben, grinste mich mit seinem zahnlosen Mund an und warf auch             Michy einen gewinnenden Blick zu. "Bitte!", jammerte Franzi             eindringlich. 
    "Wann kannst du wieder hier sein?", fragte ich schließlich.
    "Spätestens um eins, würde ich sagen.", antwortete             sie erleichtert und war mit ein paar schnellen Schritten an der Tür.             "Vielen Dank. Ich mach', so schnell ich kann." Schon war sie             verschwunden.
    "Und was machen wir nun mit Max?", sagte Michy nach einer             Minute allgemeinen Schweigens, das nur durch Max' hörbares Schmatzen             am Schnuller unterbrochen wurde. 
    "Also ich mache gar nichts mit ihm.", verwehrte sich Eve.             "Ich hab' zwei Vorlesungen Controlling. Was glaubt ihr, wie der             Prof gucken würde, wenn ich mit einem Baby ankäme."
    "Naja, dann nehmen wir ihn halt mit.", sagte ich entschlossen.             "Mrs. T. wird bestimmt nichts gegen einen weiteren Teilnehmer an             ihrem Blockseminar über moderne polnische Literatur haben." 
    "Da wäre ich mir nicht so sicher.", entgegnete Michy             mit einer hochgezogenen Augenbraue und öffnete die Tür. Zu             dritt polterten wir die abgetretenen Holztreppen hinunter. "So             Max, du darfst heute mal mit Tante Corinna in die Uni." Ich legte             den Kleinen in seinen Kinderwagen, wo er nur wenig später die Augen             schloß und gleichmäßig zu atmen begann. "Seht             ihr, Mädels," schmunzelte ich, "der ist doch ganz friedlich!"             Dann nahm ich Eve meinen Rucksack ab. Michy stellte Franzis Tasche in             die Ablage unterm Kinderwagen. Und wir schoben los. 
  * * *
  "Was macht denn der Kinderwagen hier?", fragte Mrs. T. natürlich             sofort als sie den Seminarraum betreten hatte. Wie konnte ich nur ernsthaft             annehmen, daß Max nicht auffallen würde, wenn ich ihn hinter             die letzte Tischreihe stellte? Zum Glück verstand die Dozentin             nach einer kurzen Erklärung die Notlage. "Nun, gut, der Junge             darf ausnahmsweise heute hier bleiben. Allerdings muß ich darauf             bestehen, daß wir uns nun der polnischen Literatur zuwenden, anstatt             uns um diesen Kinderwagen zu scharren.", sagte sie nach einer Weile             und gab Max, der ihr ein rosiges Lächeln zusandte, seinen Holzclown             zurück. "Kommen Sie, meine Damen!" 
    Eine Stunde verging, in der der das Baby friedlich vor sich hin schlief.             Nur ab und zu klang ein vernehmliches Schmatzen, daß auf einen             exzessiven Gebrauch des Schnullers hindeutete, bis in die ersten Reihen.             Doch als die Seminargruppe daran ging, die Texte Olga Tokarczuks zu             besprechen, meldete Max erheblichen Zweifel an die Notwendigkeit dieser             Diskussion an, indem er mit seinem Holzclown gegen den Kinderwagen schlug.             Einmal. Nun ist er wach, war mein erster Gedanke. Zweimal. Hör             bitte, bitte auf, dachte ich da. Dreimal. Ich verspannte mich merklich.             Viermal. Fünfmal. Noch einmal. Mrs. T. sah mich erwartungsvoll             an.
    "Ähm, Entschuldigung.", sagte ich und huschte so unauffällig             wie möglich zum Kinderwagen. Max fand sichtliches Vergnügen             daran, diesen Krach zu veranstalten. "Hähäää!",             lachte er mich breit an und freute sich offensichtlich über die             Aufmerksamkeit, die er erregt hatte. Mrrrr..., knurrte ich innerlich,             doch lachte freundlich zurück. "Nun hör' mal wieder damit             auf und Schlaf noch ein bißchen.", raunte ich ihm zu und             entwandte den Fingerchen ihr Werkzeug. Sofort erhob sich ein Protestgeschrei,             so daß sich 12 Köpfe in meine Richtung drehten, und ich Max             den Holzclown erschrocken wieder in die Hand drückte. Doch das             Weinen hörte nicht auf. Entschuldigend grinste ich die zwölf             Köpfe an und versuchte dann, den Schnuller in den Babymund zu verfrachten.             Der Erfolg war mäßig. Max spuckte den Schnuller sofort wieder             aus und nahm sein Weinen erneut auf. Rat suchend sah ich auf Michy,             die mit den Augen rollte und auf die Tür zeigte. Also schnappte             ich mir den Wagen und karrte das schreiende Kind auf den Flur hinaus. 
    Und was nun, überlegte ich. Der will doch nicht etwa schon seine             Flasche haben? Einfach warm machen, hatte Franzi gemeint. Ja, "warm             machen" - das war leicht gesagt. "Wenn du mal fünf Minuten             ruhig wärst, könnte ich dich in die Mensa schieben.",             versuchte ich dem Baby zu erklären, "Da machen sie dir bestimmt             dein Fläschchen warm." Max sah mich eine Augenblick mit gerunzelter             Stirn an und schien zu überlegen. "Bääääääh!",             blökte er jedoch sofort wieder los, als das Runzeln von seiner             Stirn verschwunden war. Im Eiltempo flitzte ich mit dem Kinderwagen             die Gänge entlang in Richtung Mensa. Einer unserer Professoren             entkam mit einem gekonnten Sprung nach rechts nur knapp einem Anschlag,             als wir eine scharfe Linkskurve auf der Innenbahn nahmen. "Langsam!             Langsam!", mahnte er erschrocken, und ich hoffte, daß er             sich mein Gesicht nicht gemerkt hatte. 
    Die Mensa war noch leer, denn der Mittagsansturm würde erst in             einer Stunde einsetzen. Die Frau an der Essenausgabe rückte verwundert             ihr weißes Häubchen hin und her, als ich den puterroten Max             übertönend erklärte, daß ich weder nach Essens             1, noch Essen 2 oder Essen 3 verlangte, sondern ein trinkwarmes Fläschchen             für den jungen Gasthörer brauchte. Dann kramte ich in der             Tasche, die Franzi uns übergeben hatte, und beförderte entsprechendes             Fläschchen zu Tage. Kurze Zeit, nachdem die Frau von der Essenausgabe             in der Küche verschwunden war, kam ein Schwadron Küchenfrauen             aus der Tür gestürzt und scharrte sich wie vorher die Kommilitoninnen             um den Kinderwagen. "Nimm ihn doch mal heraus! Manchmal hilft das             schon, um sie zu beruhigen.", meinte eine von ihnen, nachdem ich             erklärt hatte, daß ich nicht die Mutter des Kindes war und             nur aushilfsweise auf den Kleinen aufpaßte.
    Also hob ich Max, der erstaunlicher weise aufgehört hatte zu weinen,             aus dem Wagen und schaukelte ihn ein wenig auf und ab. Die Aufmerksamkeit             von 6 Küchenfrauen schien ihm zu behagen. Sich die halbe Hand in             den Mund stopfend und dabei grinsend flirtete er heftig in die Runde.             Dann kam die Frau von der Essenausgabe aus der Küche zurück,             und brachte das angewärmte Fläschchen. "Na, dann komm!",             sagte ich zu Max und setzte mich auf einen Stuhl im Essensaal. Bevor             das Kind sein "Bääääääh!" wieder             aufnehmen konnte, stopfte ich ihm das Fläschchen in den Mund, und             sah erleichtert wie sich seine Gesichtszüge selig schmatzend entspannten.
    Als er die Flasche leer getrunken und ein Bäuerchen gemacht hatte,             schoben wir gen Seminarraum von dannen. Dort holte ich schnell meine             Tasche ab, und flüsterte Michy zu, daß ich nach Hause gehen             würde. Die Uni war absolut nicht der richtige Platz für ein             Kleinkind. Max brabbelte während dessen auf dem Flur in vernehmlicher             Lautstärke vermutlich von seiner Begegnung mit den Küchenfrauen,             die sich nur zögerlich von ihm hatten trennen können. 
  * * *
  Als ich den Kinderwagen in unserem Hausflur abstellte, schlief Max             bereits wieder ruhig und friedlich. Nichts erinnerte mehr an die Uniszene.             Ja, ich fragte mich bereits, ob es überhaupt das gleiche Baby war.             Doch eigentlich konnte daran kein Zweifel bestehen. 
    Wie verblüfft war ich jedoch, als ich mit dem schlafenden Max auf             dem Arm das dritte Stockwerk erreichte, und Franzi lesend an unsere             Tür gelehnt vorfand. "Was machst du denn schon hier?",             fragte ich überrascht. Franziska strich sich verlegen durchs Haar             und stand auf, um mir ihr Baby abzunehmen. "Ich habe mich geirrt.             Das Vorstellungsgespräch ist erst am 13. und nicht am Dritten." 
    Ich stöhnte leicht gequält auf: "Das hätte dir aber             auch eher einfallen können." 
    "Ist mir aber erst am Bahnhof aufgefallen. Und ich wußte             ja nicht, in welchem Gebäude und in welchem Raum ihr seid."
    Wir betraten die Wohnung. "Also ich brauche nach der ganzen Aufregung             erst mal meine letzte Brötchenhälfte von heute Morgen.",             sagte ich, ließ meine Tasche im Flur fallen und begab mich in             die Küche. Max war wieder aufgewacht und lachte zufrieden seine             Mutter an, die ihm vertraulich Nettigkeiten ins Ohr raunte, die zu seinem             Verhalten in der Uni ganz und gar nicht paßten. 
    "Und," erkundigte sich Franzi dann bei mir, "wie war             er so?"
    "Der reinste Engel!", ironisierte ich kauend. "Deshalb             sind wir ja schon wieder zurück. Du solltest unbedingt sicher gehen,             daß dein Babysitter am 13. Zeit hat." Und wie ich noch überlegte,             ob Mrs. T. mir wegen der Störung ihres Seminars einen längeren             Vortrag halten würde, entriß mir Max mit einem amüsierten             Glucksen meinen Brötchenrest, schwenkte ihn in der Luft und sah             mich fragend an. "Na, gut.", stimmte ich versöhnlich             zu, "Du darfst." Wie konnte man solch einem Sonnenschein schon             böse sein? Lachend sah ich zu, wie der Kleine sich den Happen samt             Margarine und Belag zwischen sein zahnloses Grinsen schob, um ihn anschließend             genußvoll abgelutscht auf dem T-Shirt seiner Mutter zu drapieren.             "Daß er bei dir immer alles darf!", sagte Franzi halb             vorwurfsvoll, halb amüsiert. Max und ich jedoch grinsten uns verschwörerisch             an.