(Kohlhaase, Wolfgang: „Sommer vorm Balkon“, Aufbau, 1. Auflage, Berlin, 2005, S. 189)

Es ist Sommer in Berlin. Die jugendlich gebliebene Nike hält sich mit mehreren Jobs u. a. als Altenpflegerin und Kneipier über Wasser. Ihre Nächte teilt sie mit Roland. Die schüchterne Dekorateurin Katrin und ihr schulpflichtiger Sohn Max hingegen kommen, mit Katrins Arbeitslosengeld gerade so über die Runden, während sie sich „die Hacken nach einen neuen Job abrennt“ und Max über seine erste Liebe in ernsthafte Schwierigkeiten gerät. Und dennoch gibt es einen sicheren Ort im Leben der beiden Freundinnen: Nikes kleinen Altstadtbalkon, auf welchem es sich über Gott und die Welt plaudern lässt.

In saloppem umgangssprachlichem Ton erzählt Wolfgang Koohlhase die Geschichte einer Freundschaft, die beinahe an einer Männerbekanntschaft zu zerbrechen droht – eine Geschichte über Liebe, Einsamkeit und die Suche nach dem richtigen Wegbegleiter durch das Leben.

Mit „Sommer vorm Balkon“ legt der Aufbau-Verlag keines dieser typischen Bücher „zum Film“ vor, in welchen gewöhnlich aus einer lieblos zusammengeschusterten 1:1 Übersetzung des Drehbuchs in Belletristik oder – schlimmer noch – mit eingeschobenen Szenen zum besseren Verständnis weiteres Kapital zu schlagen versucht wird. Ganz im Gegenteil! Hier muss man sich ähnlich einem dramatischen Stück einlesen. Zu holprig und unübersichtlich erscheint der Text in seiner beschreibenden Struktur ohne Anführungszeichen zunächst. Ohne Raum für die Fantasie des Lesers zu lassen, werden Personen vorgestellt, Situationen skizziert sowie Emotionen vorweggenommen oder nachgeschoben. Selbst die Überraschungseffekte, die der Film bieten würde, nimmt das Drehbuch logischerweise vorweg. Somit erscheint der Text durch Sätze wie „Katrin sieht hilflos aus. Sie ist enttäuscht von sich.“ der Trivialliteratur näher als einem Theaterstück.

Doch nach einigen Seiten ist man bereits gefangen in der Geschichte um die Generationen übergreifende Suche nach Liebe und sexueller Erfüllung sowie nach Selbstbestätigung mit Hilfe von Liebe und bezahlter Arbeit. An dieser Stelle fällt die Auswahl der teils schwarz-weiß gehaltenen teils farbigen Szenenfotos und Close-ups positiv auf. In Szene 50 illustriert ein Schwarz-Weiß-Foto besonders eindrucksvoll die Natur Rolands, der sich breitbeinig zurückgelehnt auf dem Sofa sitzend von Nike und Katrin am Tisch bedienen lässt, während Katrin unter gesenkten Augenlidern hervor unsicher die offensichtlich verärgerte Nike anblickt und Roland selbstgefällig grinst.

Am Schluss des Drehbuchs nach nur 106 Seiten erscheinen alle Figuren Kohlhaases mehr oder weniger Verlierer zu sein. Nike, die in einem Heim aufgewachsen ist, gewinnt im Laufe ihrer scheiternden Beziehung ein wenig mehr Selbstbewusstsein – immerhin. Katrin jedoch kann nicht mehr umhin sich einzugestehen, dass sie Alkoholikerin ist und professionelle Hilfe benötigt. Sohn Max erkennt, dass er trotz aller Bemühungen auf sportlicher Ebene und, was die gesunde Lebensweise angeht, mit der er seinen Schwarm Charlie zu beeindrucken hofft, nicht gegen seinen Nebenbuhler Rico gewinnen kann. Charlie wiederum hat Max nur benutzt, um an ebenjenen Rico zu gelangen. Und als Leser bedauert man, so plötzlich am Schluss der Geschichte angelangt zu sein.

Doch an dieser Stelle wird es erst richtig interessant. Unter dem Zwischentitel „Regine Sylvester – Gespräche“ folgen Interviews mit Kohlhaase sowie einzelnen Darstellern des Films, die einen tieferen Einblick in die Problematik des Films sowie die Filmwissenschaft selbst gewähren. Dabei geht das Gebotene weit über wechselseitige Komplimente und Wiederkäuen der Handlung z.B. im Sinne von „Making-Of“s aktueller Kinofilme im TV hinaus.

Beeindruckend einfache und verständliche Worte des Drehbuchschreibers Kohlhaase transportieren vor allem eins: seine Liebe zum Medium Film. So antwortet er nach Stoffen für Filme gefragt unter anderem, dass die schöneren Film am Abend im Kino nicht zu Ende wären, sondern vielmehr ein Thema eröffnen würden. Den Film „Sommer vorm Balkon“ definiert er beispielsweise nicht als Liebesgeschichte sondern als „eine Geschichte übers Durchkommen“. So findet man als Leser und auch als derjenige, welcher den Film bereits gesehen hat, wieder einen neuen Zugang zum Stoff.

Die im Anschluss eingefügte Biografie des Drehbuchautors informiert kurz und prägnant über die wichtigen Entwicklungsstationen in seinem Leben. Nach allem, was man bis hierhin über Kohlhaase und seine Ansichten zum Thema Film erfahren hat, überrascht es kaum noch, dass ein solches Werk den Preis für das beste Drehbuch beim Filmfestival in San Sebastian abgeräumt hat.

In einem weiteren Gespräch sprechen die Schauspielerinnen Nadja Uhl (Nike) und Inka Friedrich (Katrin) auf recht erfrischende Art und Weise über „Set-Kommunismus“ und darüber, wie sie ihre Figuren angelegt haben. Einige Deutschlehrer und Brecht-Verehrer würden vermutlich bei Worten wie „Liebe zur Figur“ und „sich in die Figur hineinversetzen“ protestierend aufschreien, doch da Nadja Uhl für ihre Rolle im holländischen Film „Zwilling“ (2002) sogar mit einer Oscarnominierung belohnt wurde, darf die Übertragbarkeit Brecht’scher Theoreme auf das Medium Film angezweifelt werden.

Solchermaßen zu intellektuellen Höchstleistungen animiert und auf den letzten Seiten dieses „Gesprächs“ angelangt, möchte man schon erleichtert aufatmen, da folgt doch noch die obligatorische Lobhudelei der Hauptakteure hinsichtlich des Regisseurs. Andreas Schmidts [Ronald] Worte über die Alkoholkrankheit seines Vater sowie die Schauspielerei als Therapie für Co-Alkoholiker lassen diesen Absatz jedoch schnell wieder in Vergessenheit geraten. Die Ausführungen über seine Kindheit in Armut, sein Leben mit Analphabetismus und über das selbst finanzierte Schauspielstudium münden in wunderbaren Sätzen der Selbsterkenntnis wie „Heute tue ich mir weniger weh, als jemals zuvor.“ Sie verlangen dem Leser Respekt ab für diesen unsicheren sensiblen Mann, der schließlich doch seinen Platz im Leben gefunden hat und den man bereits aus erfolgreichen Produktionen wie „Crazy“ (1999) oder „Männer wie wir“ (2003) kennt.

Das abschließende Gespräch mit dem Regisseur Andreas Dresen liest sich deshalb interessant, weil die Beschäftigung eines Filmemachers mit den rein formalen Aspekten eines Lebens, wie es die Figuren Katrin und Nike führen, bekannt gemacht wird. Für den Film wurde unter anderem nachgerechnet, dass einer berufstätigen Person wie Nike nach Abzügen nicht mehr Geld im Monat zur Verfügung steht als einer Katrin, die von staatlicher Führsorge lebt. Es wird deutlich, dass dieser Film hart an der Realität geschaffen wurde - typisch für Dresen, der mit „Halbe Treppe“ bereits vor einiger Zeit einen Film vorgelegt hat, der eher dokumentarischen Charakters ist und noch weit mehr Konfliktpotential bietet.

„Die schöneren Films sind am Abend im Kino nicht zu Ende. Sie eröffnen ein Thema.“, sagt Regisseur Dresen an einer Stelle des Interviews. Man darf ihm zustimmen: „Sommer vorm Balkon“ bietet auch über den Film hinaus Diskussionsansätze und Erklärungsbedarf. Das vorliegende Buch des Aufbau Verlags ist dahingehend Anfang und Anregung zugleich.

Nachtrag: Für alle, die an dieser Stelle noch nicht genug von mir und „Sommer vorm Balkon“ haben, folgt hier noch eine Bemerkung zur Werbung im Buch.

Diese liest sich teilweise erheiternder als der eigentliche Inhalt. Wenn die Berner Zeitung über einen 314 (!) Seiten füllenden Roman werbewirksam schreibt: „Knapper kann man eine Geschichten nicht erzählen (...).“ - was kann der Leser eines Buches, in dem gerade eine komplexe Geschichte auf 106 Seiten erzählt wurde (die restlichen 80 sind Interviews), anderes machen als lachen? - Manchmal lohnt es sich, über den Schlusspunkt hinaus zu lesen.


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veröffentlicht auf literaturreport 2006 veröffentlicht auf ciao.com, 2006
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