Otranto (Italien)
Ein riesiger steinerner Helm taucht über Nacht im Hof des Schlosses von Otranto auf und löst mit seiner Anwesenheit eine Panik aus, die sich erst über mehrere Seiten des Romans „Das Schloß von Otranto“ (1756) des englischen Romanciers, Architekten und Gartengestalters Walpole als verständlich erweist. Mit seinem Werk legte Walpole die Weichen für die aufkommende Gothik Literatur und in gewissen Maße profitierte auch die Detektivliteratur davon. Bevor jetzt die ersten „Thema verfehlt“ anklicken oder die Literaturwissenschaftlerin tatsächlich mit mir durchgeht: Wenn es einen Roman gibt, dessen Handlung in einem Schloss in Otranto spielt, und ich bereits in der Nähe weile, muss ich dort natürlich hinfahren, obwohl ein Blick ins Literaturlexikon schnell offenbart, dass der tatsächliche Ort und das Schloss in Walpoles langweiligem Schauerstück nicht mehr als den Namen gemein haben.
Stationiert in Bari, das von Deutschland mit Volare Airlines oder Alitalia gut zu erreichen ist, kann man sich viele der sehenswerten Orte Süditaliens (vor allem der Region Puglia) leicht mit dem Auto über diverse Küstenstraßen und Autobahnen erschließen; so auch Otranto in der Provinz Lecce. Mit dem Auto geht es in ca. zwei Stunden am Hacken des italienischen Stiefels fast bis zur Sohle hinunter in die kleine Stadt, deren Bedeutung in der Antike so groß war, dass sie der gesamten Gegend die Bezeichnung „Terra d’Otranto“ zuwies. Heute jedoch nennt man das von Pinienwäldern, Olivenhainen und großflächigen Weinanbaugebieten durchzogene Umland Salento. Da wir uns von Norden her nähern, genießen wir den Anblick des klaren azurblauen Wassers der felsigen Adriaküste, bevor sich die Stadt mit ihren Vororten ankündigt, welche sich mit ihren großzügigen und balkongesäumten italienischen Plattenbauten wenig von anderen Städten der Gegend unterscheiden.

Erst wenn man sich zum Zentrum vorgetastet hat, findet man die weißgetünchten verwinkelten Häuser, die schmalen hohen Gässchen, urige Restaurants und kleine Shops, die den historischen Stadtkern prägen und heute die Touristenanziehungspunkte Otrantos schlechthin sind.

Dort erheben sich direkt am Meer auch die trutzigen Mauern des Schlosses, das ich eher als Burg bezeichnen würde, in den sommerlich blauen Himmel, als wir unser Auto wie so oft im Parkverbot abstellen und hoffen, dass die Politessen in einem anderen Stadtgebiet unterwegs sind.

Während wir noch den Schlossgraben überqueren fallen eine enorme Anzahl von Tauben auf, die sich in den Mauerspalten häuslich eingerichtet zu haben scheinen. Wo Tauben sind, ist erfahrungsgemäß auch immer reichlich Taubenexkrement, und so treten wir eilig unter den Torbogen. Eine schwarz weiß gefleckte Katze lauert derweil auf einem Mauervorsprung auf ihr gefiedertes Frühstück. Ihre Leibesfülle deutet darauf hin, dass sich das Lauern lohnt.

Im Torbogen empfängt uns ein rotes Plakat, das mich angenehm überrascht. Das Gebäude, dessen heutige Gestalt aus der Zeit der Renaissance stammt, wird nicht leerstehend zur Besichtigung angeboten. Es enthält auch keine Gegenstände aus der Geschichte des Schlosses, sondern dient als Foltermuseum. Für 4 Euro kann man durch die restaurierten Räume zweier Etagen wandeln und allerlei Foltergerät und Anschauungstafeln betrachten und, was das Ganze für den interessierten Besucher noch erquicklicher macht: die Erklärungen sind zum großen Teil sowohl in italienischer als auch in englischer und deutscher Sprache zu lesen.
Bereits bei den Schandmasken fällt mir auf, dass die überwiegende Anzahl der Exponate aus Deutschland stammt. Auch die Eiserne Jungfrau, die einen ganzen Raum einnimmt, kommt aus Nürnberg. Die Nachricht davon, dass man darin aufgespießt durchaus bis zu drei Tage vor sich hinleiden konnte, läßt das erste Mal Schauer über meinen Rücken laufen und mein Magen verkrampft sich leicht.

Gelegentlich erschwert Fantasie das Leben unnötig. Bläßlich schleiche ich hinter meinen italienischen Freunden hinterher und frage mich, wie Menschen anderen Menschen diese schrecklichen Dinge antun konnten, von denen ich hier nicht weiter detailliert berichten möchte. Jedem, der einmal richtigen Abscheu vor der Menschheit empfinden will, dem sei jegliches Foltermuseum, aber insbesondere das in Otranto wärmstens empfohlen.

Tief atme ich die kühle Brise ein, welche von Meer her über die Terrasse des Schlosses hinweg streicht, und stelle nicht zum ersten Mal in meinem Leben fest, dass ich mehr als froh über die moderne Rechtsprechung bin. Dann steigen wir die steinernen Treppen wieder hinunter zum Innenhof, in dem Stuhlreihen darauf hinweisen, dass das Schloss in den Abendstunden auch für kulturelle Veranstaltungen genutzt wird.
Während ich auf einem Steinblock, der eine Kanone trägt, Platz genommen habe und mir sicher bin, dass das übersichtliche Gebäude, welches ich eben besichtigt habe, wirklich nicht dem gespenstisch dunklen und verwinkelten Schloss Walpoles entspricht aber trotztden irgendwie schaurig ist, diskutieren meine Freunde lautstark über den besten Weg zur Kathedrale. Wieder einmal erweist sich die einheimische Bevölkerung eines Ortes als äußerst hilfsbereit, denn schnell mischt sich ein Herr in die Diskussion ein, der uns den Weg laut und gestenreich beschreibt.
Also stürzen wir uns hinein in den Touristenstrom, der uns durch die sonnendurchfluteten Gassen führt, bis wir kurz vor einer Art Stadttor auf den Wegweiser zur Kathedrale Santa Maria Annunziata treffen. Wir erklimmen eine Reihe von Treppenstufen und finden uns schnaufend auf dem Kathedralenplatz ein, wo ich die dicke Katze von der Burg wiederzuerkennen glaube, welche hier mit fünf Artgenossen ein Nickerchen auf dem warmen Pflaster hält. Es ist kurz vor zwölf. Die Kathedrale hat bereits seit einer Stunde geschlossen. Daher beschließen wir, uns etwas Nahrhaftes einzuverleiben und gegen drei wieder vor dem mächtigen hölzernen Portal zu stehen.
Während wir die Treppen hinunter gehen und nach rechts in die Touristenmeile einbiegen, um zu einer kleinen Bar/ Rosticceria zu gelangen, die uns bereits auf dem Hinweg durch die von ihr ausgehenden appetitlichen Gerüche aufgefallen war, nehmen wir uns Zeit, die zahlreichen Souvenirshops anzusehen. Von Keramik über Schmuck, sommerlicher Bekleidung, Pappmachéfiguren, Muscheln, Miniaturholzbooten, den obligatorischen Postkarten und anderem Nippes wird noch einiges mehr angeboten, das man nicht unbedingt braucht. Aber schön bunt ist alles und die Verkäufer locken mit freundlichem Gebaren und Rabattversprechen, so dass sich vermutlich alles umsetzen läßt, was hier offeriert wird.
Da ich meiner Keramikobsession jedoch lieber in den Werkstätten von Grottaglie fröne, wandern in Otranto nur ein paar Postkarten, mit denen ich die Daheimgebliebenen über diesen Tagesausflug unterrichten werde, in meine Tasche. Dann zieht mich das Knurren in der Magengegend zum Thresen „unserer“ Bar/ Rosticceria, in dem verlockend Panzerotti nach mir rufen. Diese ursprünglich süditalienischen Teigtaschen, deren wahrscheinlich wohlschmeckenste Form diejenige mit Mozarella und Tomaten ist, haben es mir angetan. Und so amüsieren sich meine Pizza essenden Begleiter mal wieder über meine Panzerottisucht, während Jim Morrison von der rechten Wand und ein Monet-Druck von der linken auf uns und die spärliche Einrichtung des Etablissements herabsehen.
Die zwei Wartestunden, die uns anschließend bis zur Öffnung der Kathedrale bleiben, verbringen wir am Strand direkt neben dem Schloss im Stadtzentrum. Im Sommer ist es stets ratsam, Badesachen mit sich zu führen, denn leicht entdeckt man bei Ausflügen kleine Buchten oder schöne Strände, die zur Abkühlung im Wasser einladen. Otranto liegt in einer Meeresbucht, die schon frühzeitig als Hafen genutzt wurde und der Stadt zu ihrer ursprünlichen Bedeutung als Anlaufpunkt für den Handel verhalf. Das Wasser ist auch bei Wind relativ ruhig. Der Rhythmus der Wellen macht schläfrig. Und aus den Trattorien rund um den Hafen strömt leckerer Geruch von Fischgerichten.

Es fällt uns schwer, uns schließlich aufzuraffen und erneut die Altstadt durch das massige Tor zu betreten, um die Treppenstufen zur Kathedrale zu nehmen. Dieses Mal hat sich bereits einiges Volk auf dem Platz versammelt und die Katzen haben das Weite gesucht.

Als sich schließlich eine niedrige Tür im mit Schnitzerein verzierten Holzportal öffnet und wir die Kathedrale aus dem 11. Jahrhundert betreten,wird mir klar, warum wir auf die Öffnung warten mussten: Den gesamten Boden bedeckt ein faszinierendes Mosaik, das man gesehen haben sollte, wenn man behaupten will, in Otranto gewesen zu sein.

Geschaffen wurde dieses Meisterwerk von einem Mönch im 12. Jahrhundert. Drei Bäume symbolisieren hier das menschliche Leben und in ihren Ästen haben sich biblische und heidnische Mythen wie die Geschichte von König Arthur oder vom Turmbau zu Babel verfangen. Sehr eindrucksvoll ist auch der Abschnitt über die Hölle, in dem sich Menschen im Feuer wie Schlangen winden und ebenfalls Schlangen ausspeien.

Die Krypta der Kathedrale besticht vor allem durch die 42 niedrigen Säulen von denen keine der anderen gleicht. Im rechten Seitenschiff besteht die Wand einer Kapelle aus Gebeinen von 300 Märthyrern, die man dort im Angedenken hinter Glas ausstellt, was mir persönlich leichtes Unbehagen bereitete. Aber lohnenswert ist der Besuch der Kathedrale allemale, wie auch der Ausruf einer älteren Dame aus sächsisch-thüringischem Raum bestätigte, der in etwa so klang: „Nee, is des scheene!“
Auf dem Rückweg zum Auto passieren wir linker Hand noch einmal das Eingangsportal des Schlosses. Auf der Brücke sitzt wieder die schwarz weiß gefleckte Katze. Sie leckt sich zufrieden ihr Maul. Mir ist fast, als nickte sie uns zum Abschied ein huldvolles Arrivederci zu. An unserer Frontscheibe finden wir nicht einmal einen Strafzettel und ein netter Herr, der sich einen Stuhl vor die Haustür gestellt hat und Zeitung liest, winkt uns sogar aus unserer engen Parklücke heraus. Wenn so viel Freundlichkeit und eine kleine aber feine Stadt kein Grund für eine Empfehlung sind, was dann?
 
  veröffentlicht auf ciao.com, 2004
Copyright © 2004 Corinna Hein