Die Geschichten vom Meer sind märchenhafte Erzählungen wie Karl Ludwig   Saligmanns "Sindbads achte Reise", welche den Märchenhelden auf ein   Kriegsschiff des 21. Jahrhunderts verschlägt. Dort lernt er, dass sich   wesentliche Züge der Menschheit in Jahrhunderten nicht verändern werden   und die Hoffnung auf ein Paradies aufgegeben werden muss. Auch die   Erzählung "Der Puppenmacher von Canburg" knüpft an die Tradition Hauffs   an. Sie beschreibt ein spießiges kleines Kaff, welches sich von anderen   spießigen kleinen Käffern nur dadurch unterscheidet, dass man dort eine   ungewöhnliche Hunderasse züchtet. Der Puppenmacher Alois Sonnenschein   bringt seinem Namen angemessen Wärme und Licht in die abweisende   Atmosphäre der Gesellschaft von Canburg. Doch einzig die Kinder erkennen   in dem Fremden einen Zauberer. In der kleinen Sophie weckt er sogar die   Liebe zum Tanz, die ihr später Beruf und Berufung werden soll. 
           
Schon in den ersten Geschichten zeigt sich, dass das Meer nicht nur   Faszination und Abenteuer bedeutet. Vielmehr ist es in den vorgestellten   Werken als Inspiration sowohl für die Autoren als auch für deren   Figuren zu sehen. Geschichten vom Meer sind dabei immer auch   Beziehungsgeschichten. In dieser Anthologie findet man vor allem die   Endlichkeit der Liebe thematisiert. So wird Edgars und Lilith   Liebesbeziehung am Meer in "Griechenland" auf den Prüfstand gestellt.   Sie entpuppt sich als an den unterschiedlichen Erwartungen des anderen   gescheitert und mündet in eine Katastrophe. In "Die Windsbraut"   entscheidet sich der Erzähler für die stürmische Windsbraut und verlässt   seine Familie. Caro aus "El Hierro" erkennt in einem Hotel am Meer,   dass sie 21 Jahre ihres Lebens für drei bizarre Begegnungen mit einem   geheimnisvollen Fremden verschwendet hat. Für die sich liebenden   Geschwister aus "Eros hinter dem Vorhang" ist der Aufenthalt am Meer   ebenfalls von jeher schicksalsträchtig gewesen. Obwohl beide dagegen   ankämpfen, wird das Tabu der körperlichen Liebe zwischen Geschwistern,   unabhängig davon ob sie vollzogen wird oder nicht, unvermeidlich ins   Verderben führen. 
 
Spannend ist die Kriminalgeschichte "Die Irritation" der Autorin Anke   Laufer, die 2009 bereits mit einer anderen Geschichte für den Deutschen   Kurzkrimipreis nominiert worden war. Hervorragend konstruiert und   sprachlich geschickt, lässt sie ihre Ich-Erzählerin als Zeugin in einem   Mord aussagen, den sie selbst begangen hat. Aus Rache für eine   verschmähte Liebe, die zu einem einsamen und trostlosen Leben mit einem   anderen Mann geführt hat, belastet sie einen unschuldigen Mann, der sie   an ihre frühere Liebe erinnert. Das tiefe Wasser des Ärmelkanals wird   dabei zu ihrem Komplizen. Doch das Meer steht nicht nur für das dunkle   Grab der toten Frau, sondern auch symbolisch für das Grab der Träume und   Sehnsüchte der Ich-Erzählerin.  
 
Offensichtlich stirbt es sich im Meer am effektvollsten. Das scheint   auch die Geschichte "Die Bienen" zu bestätigen. Die Binnenhandlung   erzählt eine klassische Dreiecksgeschichte, bei der sich verschmähte   Liebe in Hass und Eifersucht verwandelt, so dass der Tod aller   Beteiligten den traurigen Abschluss bildet. Die Bienen tragen hierbei   den Kampf aus, den die Menschen nicht zu kämpfen wagen. Für den   Ich-Erzähler der Rahmenhandlung ist diese Geschichte Mahnung und Warnung   zugleich. Doch wirkt "Die Bienen" wegen des romantischen Schlusses   versöhnlich und gibt der funktionierenden Liebesbeziehung zwischen den   Geschlechtern noch eine Chance. 
 
Das Meer als Spiegel der Gefühle der handelnden Figuren findet der Leser   in der Geschichte "Schwere See" besonders eindrucksvoll ausgestaltet.   In ihr überflutet die stürmische Nordsee gerade Hamburg, während die   Ich-Erzählerin, deren Mann eine Affäre hat, ein Kind zur Welt bringt,   das ebenfalls aus einem Seitensprung entstanden ist. Das wilde tobende   Meer entspricht den überfließenden Gefühlen von Schmerz und Wut der   Gebärenden, die vor allem wegen eines nicht vollendeten   Abnabelungsprozesses von ihrem Vater in ihrer Ehe und ihrem Leben bisher   nicht glücklich werden konnte. 
 
Aufenthalte am Wasser führen jedoch immer zu schicksalhaften   Begegnungen, die alles verändern können. In "Macht" führt die Reise zum   Meer zur Überwindung von Ängsten, aber gleichzeitig auch zu einem   besonders schweren, einem doppelten Abschied. "Der Rothaarige" zeigt das   Festhalten an einer Liebe, deren dürftige Grundlage nur noch ein   gegebenes Versprechen darstellt. In der befreienden Umgebung des Wassers   wird klar, wie es ist, wenn man etwas unbedingt möchte und einsehen   muss, dass es nicht funktioniert. Auch der Protagonist in "Pfirsiche und   Fische" erkennt, dass er nicht beides haben kann und sich zwischen   seiner künstlich nach Pfirsich riechenden und der natürlichen Frau vom   Meer entscheiden muss. 
 
Den Höhepunkt der Sammlung bildet jedoch zweifellos die Titelgeschichte   "Der Traum vom Meer". Schon der erste Satz macht klar, dass hier trotz   der märchenhaften Erzählweise eine deutliche Abkehr vom Märchen   stattfindet und Wünschen das Leben nur komplizierter macht. Susanna   Neuenweg erzählt bildgewaltig von der Odyssee einer "sonderbaren"   Gesellschaft“, bestehend aus dem gewalttätigen Ahab, einer gescheiterten   Selbstmörderin, eines Diebes, einer Mörderin mit indischen Wurzeln und   anderen Außenseitern der modernen Gesellschaft. Die originellen Typen,   die allesamt an der Gesellschaft kranken, retten sich buchstäblich auf   Ahabs Draisine und sind damit unterwegs zum Meer. Die Erzählerin möchte   gar nach Atlantis, was man durchaus als Sehnsucht nach einem   paradiesischen Ort verstehen kann. Doch auch in der relativ freien   Gesellschaft auf dem kleinen "Landschiff" ist das Leben kein   Zuckerschlecken. Die Autorin beschreibt die erotischen Beziehungen, die   Abhängigkeit von den Fähigkeiten des Anderen oder die Gewalt in knappen   präzisen Sätzen, so dass man gründlich lesen muss, bis der häufig nur in   einem Halbsatz verborgene Schlüssel zur Erkenntnis der Situation die   surreale Beschreibung in einem neuen Blickwinkel erscheinen lässt. "Jeder   hat seine Quest. Vielleicht verfolgt Schambart nun eine andere. Heute   Morgen habe ich bei Ambra eine blutige Haarnadel gefunden. Unter unserem   Schiff stinkt etwas. Ich möchte hier nicht bleiben." In diesem   anspruchsvollen Text gibt es keine Floskeln, ist kein Wort zu viel   geschrieben. Die inhaltliche Abkehr vom Märchen erstreckt sich somit   auch auf die sprachliche Gestaltung. Nur die Namen der Protagonisten und   ein Märchen innerhalb der Geschichte haben sich den märchenhaften   Charakter bewahrt. Geschickt werden damit die Träume, Sehnsüchte und   Welten ausgenutzt, die sich hinter ihnen verbergen und nur in wenigen   Sätzen angedeutet werden müssen, um beim Leser ihre Wirkung zu   entfalten. 
 
Ein wenig blass wirken dagegen Geschichten wie "Sohn der Insel", die so   entspannt daherkommt, wie man sich das Leben auf einer einsamen   Südseeinsel vorstellt, wenn Naturgewalten, Monster oder Piraten   ausbleiben, sowie "Heimkehr", die unabgeschlossen wirkt und man sich   eher als Anfang einer längeren Erzählung vorstellen kann. Das   "Prosaische Fischerlied" besteht aus aneinandergereihten Worten und   Satzfetzen. Sie ergeben nicht immer Sinn wie die "verlockt, verliebt,   verleiteten" Krähen und muten eher wie ein atemloses Spiel mit Worten   an, die mehr Energie für die Nacht versprechen, als man sich bei einem   Fischer nach seinem anstrengenden Tagwerk vorstellen kann. 
 
Doch insgesamt handelt es sich bei "Der Traum vom Meer" um einen   interessanten Querschnitt durch die zeitgenössische deutsche Literatur.   Der Autor Herausgeber Frank W. Haubold, der dem Meer auch persönlich   verbunden ist, hat dafür mit Schriftstellern zusammengearbeitet, die er   bereits aus vorhergehenden Anthologieprojekten kennt, und das Thema als   Wettbewerb in einem Literaturforum ausgeschrieben. Die besten   Geschichten haben es zwischen die Deckel des knapp 200seitigen   Hardcovers geschafft. Das Buch ist auch handwerklich gut gestaltet.   Besonders eindrucksvoll sticht der von Crossvalley Smith alias Dr.   Martin Schmidt entworfene Schutzumschlag hervor, von dem aus dem Leser   zwischen aufgetürmten Wolken und einem grünblauen unruhigen Meer ein   wachsames Auge entgegenblickt. Hoffentlich lässt diese auffällige und   geheimnisvolle Gestaltung zahlreiche Leser in Buchhandlungen zugreifen.   "Der Traum vom Meer" hätte es verdient. 
       
      
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