"Zeit zum Abtauchen"

(Klausmann, Liza: Zeit der Raubtiere, Droemer, 2012, ISBN: 978-3426199510)

Lizy Klausmann fackelt nicht lange. Bereits auf den ersten Seiten ihres melodramatischen Romandebuts "Zeit der Raubtiere" wird der Leser in hineingezogen in eine Atmosphäre aus schwüler Hitze, melancholischem Blues und Alkohol. Die Cousinen Helene und Nick warten in Cambridge sehnsüchtig darauf, dass in Europa der Zweite Weltkrieg zu Ende geht und Nicks Ehemann wieder heimkommt, während Helen, deren erster Mann im Krieg gefallen ist, einer zweiten Ehe mit dem glamourösen Filmproduzenten Avery Lewis aus Hollywood entgegenfiebert. In dem aufregenden Leben, das sich beide erträumen, wird der jährliche Sommerurlaub im Familienanwesen Tiger House auf der Insel Martha's Vineyard als feste Größe eingeplant. "Nick lächelte. Sie dachte an Tiger Houser, an die luftigen Zimmer und den weiten grünen Rasen, der sich im Blau des Hafens verlor. Und an das kleine süße Cottage daneben, das ihr Vater als Geschenk für Helenas Mutter gebaut hatte. 'Häuser, Ehemänner und Ginpartys um Mitternacht', sagte Nick. 'Nichts wird sich ändern. Jedenfalls nichts Wichtiges. Alles wird so sein wie immer.'"

Doch natürlich macht das Leben keinen Halt und der Krieg hat vieles verändert. Nicks Ehemann Hughes ist nicht mehr der unbeschwerte Typ, in den sie sich verliebt hat, sondern möchte ein geordnetes bürgerliches Leben führen. Nick findet sich bald in der traditionellen Rolle der Hausfrau und Mutter wieder, die ihr stets widerstrebt hat. Auch Helens glamouröses Leben stellt sich als Farce heraus, die nur mit Alkohol und Tabletten zu ertragen ist. Dennoch treffen die Familien regelmäßig in Tiger House zusammen. Die Leser erleben in "Zeit der Raubtiere" die Schlüsselmomente der Familiengeschichte aus den Jahren 1945 bis 1969 jeweils aus den Perspektiven von Nick, Helen, Hudges sowie den Kindern Daisy und Ed. Dadurch, dass jede der Figuren einen recht beschränkten Blick auf die Vorgänge in der eigenen Umgebung hat, sind die Wiederholungen des Erzählten immer wieder spannend zu lesen, denn von Mal zu Mal erhält der Leser mehr Informationen, kann sich ein umfassenderes Bild zusammenpuzzeln und der Wahrheit näher kommen, bis schließlich Eds Sicht auch die letzten Puzzleteilchen zur Verfügung stellt.

Daisy bildet in diesem Reigen aus der egozentrischen Selbstdarstellerin Nick, der bis zur Selbstaufgabe hörigen Helen, dem vorgeblich eloquenten Hughes und dem mysteriösen Ed wohl noch die sympathischste Figur, aber durch ihre überzeichnete Unschuld und Naivität kann man ihr ebenfalls keine reine Sympathie entgegenbringen, sondern möchte sie lieber durchschütteln, um ihr die Augen zu öffnen. Als Leser saugt man die gut 400 Seiten förmlich auf und lechzt nach dem nächsten Häppchen Wahrheit, das bestätigt, wie verkorkst nicht nur die beiden Familien, sondern die ganze Bevölkerung der Insel hinter ihrer bürgerlichen Fassade ist. Da nimmt es schon gar nicht mehr Wunder, dass Helens Sohn Ed spätestens nachdem er mit Daisy eines Sommers auf eine Leiche stößt, einer morbiden Faszination für das Innenleben von Menschen im wahrsten Sinne des Wortes erliegt. So gleitet die melancholische Grundstimmung immer mehr in Richtung Grauen und Verzweiflung ab, bis nicht nur Helen, sondern auch Nick vor den Trümmern ihrer Ehe stehen und dennoch mit aller Kraft und Hoffnung daran festzuhalten versuchen. In Tiger House treffen folglich mit den Figuren auch alles andere aufeinander: Erinnerungen und Träume, Realität, Lebenslügen, Liebe, Hass, Neid, Angst und Tod. Dennoch wird bis zur letzten Seite immer wieder deutlich, was man entweder als Segen oder als Fluch betrachten kann: dass die Familie alles ist, was man im Leben hat und sie jedem Mitglied helfend zur Seite steht - ob es will oder nicht. 

Dieser Aspekt des Gefangenseins in der Familie wird nicht nur in Helens Geschichte deutlich, wo er vermutlich ihrer die einzige Rettung darstellt. Gut gelungen ist die Umsetzung der Problematik auch in Daisys Leben als Teenagerin, wenn in den Dialogen immer wieder deutlich wird, wie die Liebe zur Mutter in Hass und wieder zurück umschlägt immer begleitet von Schuldgefühlen, weil man dem Menschen mit seinem Hass vielleicht Unrecht getan haben könnte. In ihrem Teil kommt auch gut zum Ausdruck, wie der Teenager ständig zwischen Imitation der Erwachsenen mit Lippenstift, Drink und vorgeblicher Lebenserfahrung sowie einer kindlichen Unerfahrenheit und Blindheit für die Vorgänge in der Erwachsenenwelt pendelt, während Eds Wesen ganz darauf ausgerichtet zu sein scheint, alles zu hinterfragen, auszuspionieren und sich nicht blenden zu lassen. Der pointierte Erzählstil der Autorin zeigt dabei auch die anderen Figuren zwischen Fluchtreflex, Schuld und Festhalten an der Beständigkeit. Aber wie ein Tiger im Jungle lauert ständig etwas im Dunklen, das in jedem beliebigen Moment die mühsam aufrecht erhaltene Illusion zerstören kann. 

Die Journalistin und Autorin Liza Klaussmann kann bei der Schilderung der Insel Martha's Vineyard und der bürgerlichen Gesellschaft der 50er Jahre mit ihren Partys, dem Yachtclub und Bootstouren, der gepflegten Langeweile sowie dem beständigen Konsum von Alkohol auf ihre eigenen Erinnerungen an die kleine Insel vor Boston zurückgreifen, wo auch Präsidenten und Stars Urlaub machen. Wohl deshalb taucht man als Leser nicht nur wegen der Lust an den Geheimnissen der Charaktere nur schwer wieder aus dem Buch auf. Man bleibt auch gefangen in der fast poetisch beschriebenen Welt der Ostküste Amerikas mit romantischen Sommerhäuschen, staubiger Hitze, dem salzigen Geruch des Meeres, mit lachenden Menschen und Musik aus der Ferne, wo niemand sagt, was er denkt, und nichts wahr ist. Ein kleines Stück Amerika - unbedingt lesenswert.


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veröffentlicht auf buchwurm.info, 2012
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